Predigt von Msgr. Prof. Dr. Dr. Rudolf Michael Schmitz am Fest der hl. Anna, dem 26. 7. 2022

/ Januar 12, 2023/ Predigten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen

Es scheint so zu sein, als würden die meisten Menschen unfähig sein, auch nur über ihre Nasenspitze herauszublicken. Voraussicht ist eine seltene Tugend. Das Vorsorgen für Notlagen und für viele andere Dinge ist uns scheinbar nicht angeboren. Wir sehen es heute, wenn wir in die Schlagzeilen blicken. Die Politiker scheinen jeden Tag neu überrascht und finden niemals die richtige Lösung; auch sie sehen nicht über ihre Nasenspitzen hinaus, auch sie scheinen keine Voraussicht zu kennen.

Gott ist ganz anders! Er ist die Vorsehung. Er ist die Vorausschau. Er sieht alles, weil alles Ihm gegenwärtig ist, ohne Grenzen von Raum und Zeit. Er plant alles im Kleinsten voraus und sorgt voraussehend in Zeit und Ewigkeit dafür, dass sein Plan verwirklicht wird. So weiß heute die Naturwissenschaft, dass diese Welt nicht wie ein Uhrwerk einfach mechanisch funktioniert, sondern dass Gott in den allergrößten Dingen wie auch im Allerkleinsten alles genau lebendig und zielgerichtet geordnet hat, vorausschauend auf das menschliche Leben, das Er auf diesem Planeten, der nicht im Weltall verloren ist, sondern der von Anfang an in Seinen Plänen im Mittelpunkt stand, hervorrufen wollte. Er hat alles auf dieses Leben hin geschaffen, alles darauf hin fein geregelt, alles darauf hin geplant und vorausgesehen. Alles, was hier passiert, was geschehen ist und noch geschehen wird, ist im Geist Gottes jetzt schon und immer schon gegenwärtig. Er ist Voraussicht, Er ist göttliche Vorsehung, Er ist das Ewige Jetzt!

Wenn Er aber schon auf diesem Planeten das natürliche Leben, Seine Schöpfung und schließlich das menschliche Leben, die Krone der Schöpfung, im Allerkleinsten vorausplant und begleitet, wenn alles, was dazu geführt hat, schon vor unvordenklichen Zeiten in Seinem göttlichen Geist gegenwärtig ist, wie sehr plant Er nicht voraus, was alles hinsichtlich der irdischen Geburt Seines eingeborenen Sohnes auf dieser Erde geschehen sollte. Nichts ist Zufall, nichts ist von ungefähr geschehen, nichts mechanisch, alles ist schon vor aller Zeit vom göttlichen Geist vorausgesehen und vorausgeplant! Daher sind auch die hl. Anna und der hl. Joachim in ihrer Lebensgeschichte so im göttlichen Heilsplan verankert, dass ihr Leben ein wichtiger Teil dessen ist, was zu dem wichtigsten Ereignis in der ganzen Heilsgeschichte führen sollte, nämlich zur Geburt Jesu Christi, des Erlösers.

Als die hl. Anna feststellte, dass sie scheinbar steril war, hat sie nicht aufgehört zu beten. Wie jede Frau war sie darüber tieftraurig, wie jede Frau wollte sie ihrem Mann ein Kind schenken. Sie wusste, dass es wahrscheinlich nicht möglich sein würde, aber trotzdem hat sie das Beten und das Gottvertrauen nicht aufgegeben. Sie hat immer wieder von Neuem den Tempel besucht, sie hat sich vorbereitet auf das Wunder, das Gott in ihrem scheinbar abgestorbenen Schoß wirken sollte.

Der hl. Joachim hat diese von Gott vorausgesehene Tatsache nicht ganz so leichtgenommen. Als er eines Tages zum Tempel ging, um dort zu opfern, so wie es ihm vorgeschrieben war, hat ihn der diensthabende Priester weggeschickt und ihn verhöhnt, weil er ein kinderloser Mann war. Das hat er sich so zu Herzen genommen, dass er nicht mehr zu Anna zurückgekehrt ist, sondern sich in der Wüste verkrochen hat bei seinem Vieh, und die hl. Anna in ihrem Kummer allein gelassen hat. Diese aber hat nicht aufgehört zu beten. Ja, sie hat angesichts dieses Ereignisses, vielleicht auch, um zu klagen, den Tempel aufgesucht und ihre Bemühungen verstärkt, Gott dazu zu bringen, sie zur Mutter zu machen. Sie hat Ihm sogar die Frucht ihres Leibes, die noch gar nicht empfangen war, geweiht und gleichsam schon weggegeben, was sie noch nicht erhalten hatte. Da hat Gott eingegriffen! Er hat beiden himmlische Boten gesandt. So ist es dazu gekommen, dass sie sich vor den Toren Jerusalems getroffen haben, dass Anna nach neun Monaten doch noch ein Kind gebären konnte und als Mutter der hl. Jungfrau die Großmutter des Erlösers werden konnte.

Gott hat das alles vorausgesehen. Er hat vorausgesehen, dass die hl. Anna trotz ihres Alters empfangen würde. Er hat vorausgesehen, dass Anna zu Ihm beten und erhört werden würde, wie sie immer gehofft hatte. Selbst der hl. Joachim begriff ganz zum Schluss, dass er in seiner Traurigkeit und in seinem Fluchtversuch schon ein Instrument der Vorsehung Gottes war.

Wir tun manchmal Dinge, wenn uns das Gottvertrauen verlässt, die wir selbst nicht begreifen können. Wenn wir aber zurückkehren zu Gott, dann sehen wir plötzlich, dass das alles doch im Plane Gottes war, denn Gott kann auch auf krummen Zeilen gerade schreiben. Hätte die hl. Anna nicht in ihrer scheinbaren Sterilität immer wieder darum gebetet, ein Kind zu bekommen, dann wäre die Mutter Christi nicht geboren worden. Hätte Joachim nicht seine Pflicht im Tempel erfüllt und dadurch eine tiefe Kränkung erhalten, die aber die hl. Anna noch mehr dazu gebracht hat, in ihrem Gottvertrauen zu Gott, dem Allmächtigen zu beten, dann wäre dieses Wunder nicht geschehen. Gott hat das alles schon immer gewusst und in seinem großen Plan gesehen.

Wenn wir also in Schwierigkeiten aufhören zu vertrauen und zu beten, wenn wir uns von Gott abwenden, wenn wir uns mit mangelndem Vertrauen nicht mehr an Ihn wenden, dann durchkreuzen wir Seine Pläne. Wir durchkreuzen Seine Vorsehung, die vielleicht aus unserem Leiden, aus unserer Dunkelheit, aus unseren Schwierigkeiten schon lange und vor allen Zeiten vorhatte, etwas Größeres geschehen zu lassen, so wie es bei der hl. Anna war.

Die hl. Anna hat jedoch noch mehr getan. Sie hat das, was sie erhielt, Gott schon vorher versprochen und dann tatsächlich weggegeben. Sie hat nicht behalten wollen, was Gott ihr geschenkt hat, sondern sie hat es Ihm zurückgegeben. Sie hat aus der hl. Jungfrau Maria eine Tempeljungfrau gemacht, die schon im allerzartesten Alter in den Tempel zurückgebracht wurde. Nur dadurch hat sie ihre unversehrte Jungfräulichkeit immer behalten können. Sie hat nur dadurch den hl. Joseph kennengelernt, weil die Tempeljungfrauen, wenn sie verheiratet wurden, auf eine besondere Weise ihren Bräutigam finden konnten. Sie hat nur dadurch dem wunderbar gewollten Heilsplan Gottes entsprechen können, dass die hl. Anna so großzügig war, das Geschenkte nicht zu behalten, auch wenn es ihre einzige Tochter war.

Wenn wir deswegen behalten wollen, wenn wir uns an etwas klammern, wenn wir nicht loslassen wollen und nicht weggeben wollen, dann sind wir auch oft dabei, die Pläne Gottes und Seiner Vorsehung zu durchkreuzen. Wenn wir darunter leiden, dass uns etwas genommen wird, ein geliebter Mensch, eine Situation, die Gesundheit, Haus, Hof, Hab und Gut oder was es immer sein mag, so hat Gott hat auch damit schon einen Plan. Wenn wir das Liebgewonnene weggeben, wenn wir wegschenken, was uns am Herzen liegt, wenn wir es wenigstens innerlich Ihm überlassen, wenn wir uns davon frei machen, dann wird Er uns eine größere Gnade schenken und Seine Vorsehung wird in uns mächtiger gegenwärtig werden als mit unseren kleinen, oft so spießigen menschlichen Plänen.

Wie die hl. Anna sollen wir ein großes Herz haben; wir dürfen mit Vertrauen auch in dunklen Stunden beten. Wenn uns Gott dann aber beschenkt, dann wollen wir es nicht geizig für uns behalten, was Er uns gibt, sondern es weitergeben, damit Gott etwas noch Größeres daraus mache und das Tor zur Gnade weit öffnet, wie er es mit der Tochter Annas, der Allerseligsten Jungfrau Maria getan hat, damit der Erlöser in die Welt kommen kann. Mit ihrem großen Gottvertrauen lehrt uns die Großmutter des Herrn, wie wir immer voraussehend tätig sein sollen.

Nicht die menschliche, kleine Voraussicht, so nötig sie sein mag, ist es, die uns wirklich retten kann. Es ist vielmehr große Weitsicht Gottes, die über menschliches Kalkül herausgeht! In allen Prüfungen und Dunkelheiten liegt ein Plan Gottes! Haben wir Vertrauen, glauben wir, dass Er es besser weiß als wir, auch wenn wir leiden müssen. Dieses Leiden ist bereits im Leiden Jesu Christi aufgehoben und wird einem größeren und erhabeneren Ziel dienen. Wenn wir etwas behalten wollen, wenn wir egoistisch sind, dann können wir nicht frei mit der großen Vorsehung Gottes mitarbeiten. Sind wir dagegen großzügig, sind wir offen und frei so wie Er, dann werden wir zu Instrumenten der Gnade und wir werden wie die hl. Anna, die hl. Jungfrau und der Herr selbst am Heil dieser Welt mitwirken.

An diesem Ort wird die hl. Anna seit 800 Jahren verehrt. Seit 800 Jahren kommen hierhin Mütter, die um eine gute Geburt flehen. Seit 800 Jahren ist die Großmutter noch vor der Mutter hier Gegenstand der Verehrung gewesen. Seit 800 Jahren haben hier fromme Gottesfrauen gewohnt, die ihr Leiden dem Herrn anvertraut haben im ewigen Gebet und die alles weggegeben haben, damit die Vorsehung in ihnen und durch sie Großes bewirken kann. Das war alles beschlossen im weiten Plan Gottes! Deswegen sind unsere Anbetungsschwestern zurückgekommen! Deswegen ist Maria Engelport wieder ein Gnadenort für viele geworden! Deswegen können wir hier jeden Tag den Finger der göttlichen Vorsehung erkennen! Wir können lernen, auch an den Leiden, die der Erhalt eines solchen Klosters immer mit sich bringt, dass Gottes Pläne größer sind. Wir alle brauchen ein großzügiges Herz. Wir brauchen jemanden wie die hl. Anna, die niemals aufhört zu beten, die niemals aufhört zu vertrauen und die Gott alles gibt, was sie hat. Wir müssen selbst mit der Gnade so mitwirken wie die Großmutter des Herrn. Dann wird die barmherzige Vorsehung Gottes uns und diese Welt retten! Amen.