Predigt zum vierten Sonntag nach Ostern

/ Mai 9, 2020/ Predigten

Was ist Wahrheit? Diese etwas blasierte Frage des Landpflegers Pontius Pilatus an den leidenden Heiland war schon zu seiner Zeit nicht neu. Dem Anspruch der Wahrheit gegenüber hat es immer schon Ausreden gegeben. Vielfach, wie schon Kain es vorgelebt hat und wie es immer wieder bis auf den heutigen Tag geschieht, besteht diese „Ausrede“ der Wahrheit gegenüber einfach in nackter Gewalt: „Willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein“! Subtiler, aber nicht weniger gewalttätig, ist die Unterdrückung der Wahrheit durch Manipulation, Propaganda und „politische Korrektheit“. Alles ist dann angeblich nur noch „Meinung“, aber nur eine „Meinung“ wird geduldet, alle anderen werden durch sozialen Druck, Zensur oder schamlose Lüge einfach ausgemerzt.

Demgegenüber hat die Kirche immer daran festgehalten, dass es eine objektive, erkennbare und weitergebbare Wahrheit gibt, die von allen gewusst und festgehalten werden kann, die guten Willens sind. Diese objektive Wahrheit liegt in den Dingen selbst. Unser Verstand ist in der Lage, sie aus diesen herauszulesen und so auszudrücken, dass auch andere sie verstehen können. Dass ein Baum ein Baum ist, ein Tisch ein Tisch und ein Mensch ein Mensch kann jeder erkennen und weitergeben, wenn er nicht verblendet ist. Das innere Wesen der Dinge ist nämlich bereits vor unserem Verstand vorhanden. Wir schaffen die Wahrheit der Dinge nicht, sondern wir erfassen sie und können sie weitergeben. Wenn sich unser Verstand einem Gegenstand öffnet, dann erkennen wir in ihm sein wahres Wesen und können es anderen weitergeben.

Dadurch sind wahre Aussagen möglich. Dadurch können wir uns einander verständlich machen. Dadurch können alle Menschen, gleich welcher Kultur, Erziehung oder sozialer Herkunft, wenn sie mit der Wahrheit konfrontiert werden, diese annehmen und erkennen. Dadurch ist es uns auch möglich, wahr von falsch zu unterscheiden. Weil die Wahrheit der Dinge immer gleichbleibt, kann auf die Dauer die Lüge vor der objektiven Wahrheit nicht bestehen. Der Volksmund sagt daher mit Recht: „Lügen haben kurze Beine.“ Am Ende, oft nach vielen Kämpfen und großem durch die Lüge verursachtem Leid, siegt immer die Wahrheit. Mag die Ideologie auch noch so mächtig sein und sich sogar der Ungerechtigkeit, der Rechtsverdrehung, der Diffamierung, der Unterdrückung und des Mordes bedienen, schließlich enthüllt sie sich, als was sie ist: Schamlose Lüge und brutaler Verrat an den Belogenen. Kommunismus und Nationalsozialismus sind nur zwei Beweise für die schließlich aufgedeckte Massenlüge.

Die Wahrheit setzt sich auf die Dauer gegen alle uralten Sophismen, gegen alle berechnete Massenbeeinflussung und sogar gegen die Gewalt durch. Sie ist letztendlich unbesiegbar und wird am Ende immer wieder offenbar. Sie ist wie ein Licht, das niemand löschen kann. Sie ist so stark, dass schließlich der gesunde Menschenverstand den Irrtum erkennt und die Wahrheit triumphieren lässt. Warum ist das so?

Diese einzigartige Kraft der Wahrheit rührt aus ihrem Ursprung in Gott. Gott ist die Wahrheit. In Ihm fallen Sein, Wahrheit, Güte und Schönheit in eins. Er stiftet die Wahrheit des Wesens der Dinge. Er legt eine unverwechselbare und eindeutige Seinswahrheit in alles Geschaffene. So kann schon der heilige Augustinus in seinen Confessiones sagen „«Wo ich die Wahrheit fand, da habe ich meinen Gott, die Wahrheit selbst, gefunden und ich habe sie nicht vergessen, seitdem ich sie gefunden habe». Gott ist die Wahrheit und alle Wahrheit ist aus Gott. Göttliche Kraft ist in der Wahrheit mitten unter uns anwesend. Daher ist sie immer stärker als Lüge und Irrtum.

Das wird besonders deutlich, wenn sich die göttliche Wahrheit uns direkt offenbart. Christus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ (Johannes, 14, 6). In Jesus Christus ist die göttliche Wahrheit Mensch geworden. Schon in der Verkündigung der alttestamentlichen Propheten hatte Gott die Wahrheit, und damit sich selbst, in Wort und Tat offenbart. Nun aber tritt das göttliche Wort selbst in die Geschichte der Menschen. Die Wahrheit selbst verkündet uns die Wahrheit! Alles, was Jesus tut und sagt, ist daher Offenbarung göttlicher Wahrheit. Er gibt uns Einblick in Geheimnisse der Wahrheit, die wir selbst niemals hätten erkennen können. Unser Glaube ist die von der Gnade geschenkte Erkenntnis und das Festhalten an dieser Wahrheit, mit der Gott uns zum Heil führt. Dabei bedient sich der Heiland menschlicher Sprache und menschlichen Handelns. Er zeigt damit, dass in unseren menschlichen Worten und dem entsprechenden Tun die Wahrheit unverwechselbar und ohne Irrtum ausgedrückt werden kann. Gott selbst bestätigt damit die Existenz objektiver Wahrheit und die Möglichkeit, diese unverfälscht weiterzugeben.

Das ist das Prinzip der katholischen Tradition. Tradition in diesem Sinn meint Überlieferung der aus der Offenbarung Gottes stammenden Wahrheit des Glaubens ohne Vermischung von Irrtum. Da die Wahrheit in den Dingen erkannt und formuliert werden kann, kann sie offensichtlich auch weitergegeben werden. Wenn wir Menschen das tun, etwa in der Erziehung unserer Kinder oder in den Wissenschaften, kann sich aber Wahrheit mit Irrtum vermischen. Wir Menschen sind beeinflussbar, wir irren uns, wir erkennen nicht immer die ganze Wahrheit, auch wenn sie erkannt werden könnte. Verblendung und Dummheit sind nicht selten. Lüge und Manipulation bedient sich dieser menschlichen Schwächen. Deswegen hat Gott die Wahrheit des Glaubens vor dem Irrtum geschützt. Wir sind in der Erkenntnis der Glaubenswahrheit nicht allein auf uns selbst gestellt.

„Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommt, dann wird er Euch in die ganze Wahrheit einführen.“ (Johannes, 16, 13) Diese Offenbarung des heutigen Evangeliums zeigt uns, dass Gott vorgesorgt hat, damit die Heilswahrheit vor Irrtum geschützt ist. Der Geist der Wahrheit, der Heilige Geist, ist der Kirche gesandt, damit die Wahrheit Gottes bestehen bleibt. Dieser Geist Gottes hat die Apostel und Evangelisten befähigt, die wahre Offenbarung Jesu so weiterzugeben, dass sie keinen Irrtum enthält. Der Geist der Wahrheit hat die mündliche Überlieferung der Offenbarung, die der schriftlichen vorausgeht, bereits so gestärkt, dass das Lehramt der Kirche durch die ersten Bischöfe und ihre Nachfolger die offenbarte Wahrheit Gottes unverfälscht enthielt.

Als dieses erste Lehramt dann teilweise schriftlich niedergelegt wurde, hat Gott dem, was wir heute das Neue Testament nennen, die gleiche Unfehlbarkeit in der Übermittlung der Heilswahrheit geschenkt wie vorher schon dem Alten Testament. Der Geist der Wahrheit hat die Evangelisten ebenso wie die Propheten davor bewahrt, Wahres mit Falschem zu vermischen. Rein menschliche Weitergabe der Wahrheit wäre immer vom Irrtum bedroht gewesen. Deswegen hat Gott selbst Seinen göttlichen Geist gesandt, damit er die Kirche in „die ganze Wahrheit“ einführe und darin erhalte. Nicht nur die Heilige Schrift, das Ergebnis der mündlichen Überlieferung, ist von diesem Geist der Wahrheit inspiriert. Auch die mündliche Überlieferung der Kirche selbst, das Lehramt, besitzt diesen göttlichen Beistand, wenn es um die Bewahrung der apostolischen Überlieferung der Offenbarung geht. Immer dann, wenn das Lehramt der Kirche eine Wahrheit des Glaubens feierlich als zur Offenbarung Gottes gehörig verkündet, garantiert der Geist der Wahrheit, dass die Kirche „die ganze Wahrheit“ spricht!

Das ist für die Kirche gleichzeitig Sicherheit und Verpflichtung. Sicherheit, weil wir wissen, dass Gott selbst die Wahrheit des Glaubens für immer garantiert. Wenn wir uns an diese Wahrheit halten, können wir nicht irren. Die ganze Wahrheit der Offenbarung, so wie sie in der Kirche fortbesteht, ist über menschliche Schwäche erhaben und bleibt bestehen, bis sie bei der Wiederkunft Christi von neuem allen sichtbar vor Augen tritt. Wir sind in Sicherheit vor den Irrtümern der Zeit, wenn wir am ganzen katholischen Glauben festhalten und ihn leben.

Diese Wahrheit verpflichtet aber auch. Einmal erkannt, müssen wir an ihr festhalten. Sie ist der einzige sichere Weg zum Heil. Wir müssen sie weitergeben, damit alle Menschen guten Willens sie erkennen können. Sie muss gegen allen Relativismus und alle Vorspiegelungen des Zeitgeistes verkündet werden. Papst, Bischöfe und Priester sind zu ihrer unverfälschten Verkündigung verpflichtet, wenn sie ihr von Christus verliehenes Amt nicht verraten wollen. Die Wahrheit des Glaubens, die durch den Geist Gottes die ganze Heilswahrheit wiedergibt, ist nicht bloße Meinung. Ihre Inhalte, die wir auch Dogmen nennen, müssen immer „eodem sensu eademque sententiae, im selben Sinn mit denselben Worten“ verkündigt werden, wie schon im fünften Jahrhundert Vinzenz von Lerin in seinem berühmten Commonitorium lehrte.  Die Kirche hat immer dieselbe Wahrheit gelehrt und muss es auch weiter tun, denn sie kann den Geist Gottes, der sie „in die ganze Wahrheit einführt“, nicht verleugnen.

Immer schon aber hat es deswegen Kämpfe und Auseinandersetzungen gegeben. Oft genug war der Staatsgewalt „die ganze Wahrheit“ des Glaubens unbequem. Oft genug hat es sogenannte Theologen und sogar Bischöfe gegeben, die den Herrschenden nach dem Mund reden wollten. Oft hat sich durch menschliche Schwäche Irrtum und Häresie in die Glaubensverkündigung eingeschlichen. Viele Male haben die Feinde der Wahrheit die Kirche angegriffen und behauptet, ihre Lehre sei nicht mehr „zeitgemäß“. Die Geschichte wiederholt sich. Der „Vater der Lüge“ wird nicht müde, die Wahrheit des Glaubens verdunkeln und verfälschen zu wollen. Er hasst die Wahrheit, die uns zum Heil führt.

Doch immer siegt schließlich die Wahrheit, denn sie kommt von Gott. Die Geschichte der Kirche zeigt, dass der Irrtum sich vielleicht manchmal lange halten kann, doch dass er schließlich verschwindet. Die Lüge ist an die Zeit gebunden, in der sie entsteht, die Wahrheit Gottes ist ewig. Haben wir also keine Angst, sondern bekennen wir klar und eindeutig die ganze Wahrheit des Glaubens. Halten wir an allen Dogmen der Kirche und am ganzen Glaubensbekenntnis mit großer Treue fest.

Dann haben wir eine Richtschnur in den Diskussionen der Zeit. Dann können wir wahr und falsch unterscheiden. Dann können wir die Wahrheit in den Dingen klarer erkennen. Dann werden wir nicht Opfer von Ideologie und Manipulation. Halten wir also an der Wahrheit fest, die die Kirche immer verkündet hat. Dann behalten wir nicht nur den gesunden Menschenverstand, sondern wir werden auch frei, wie der Herr es sagt: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch freimachen.“ (Johannes 8, 31-32). Amen.

Msgr. Prof. DDr. Rudolf Michael Schmitz